Porträtbild von Prof. Dr. Wolfgang Wahlster

© DFKI / Jim Rakete

Auf den landauf, landab zu vernehmenden Ruf nach Innovation durch Digitalisierung reagiert Prof. Wolfgang Wahlster nur noch mit einem müden Kopfschütteln: „Das Thema ist in aller Munde, dabei ist die erste Welle doch schon vollständig durch“, erklärt der 64-jährige Informatiker. „Egal, ob in Unternehmen, Organisationen oder privaten Haushalten – überall werden digitale Daten erzeugt und genutzt. Denken Sie nur an Digitalfotografie und Kommunikation.“ Doch natürlich sieht der Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken kein Ende der technisch-ökonomischen Entwicklung. Ganz im Gegenteil: „Auf Wirtschaft und Gesellschaft rast im Moment eine zweite Digitalisierungswelle zu. Und diese Welle ist ein Tsunami.“

Das mag für manchen Laien gewagt klingen, doch diese Einschätzung kommt aus berufenen Munde: Prof. Wolfgang Wahlster genießt in seinem Fach Weltruf. Davon zeugen diverse Ehrendoktorwürden von Universitäten im In- und Ausland, eine Vielzahl von Mitgliedschaften in Fachbeiräten und Expertengremien und nicht zuletzt eine Berufung in die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften, jene Einrichtung, die alljährlich die Nobelpreise für Physik und Chemie verleiht. Auch die Bundesregierung lässt sich von Prof. Wahlster zu Fragen der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft beraten. Er gilt als einer der Väter des Begriffs „Industrie 4.0“ und hat diesen 2011 bei der Eröffnung der Hannover Messe erstmals öffentlich definiert.

Die von Prof. Wahlster beschriebene zweite Welle der Digitalisierung ist nicht nur quantitativer Natur, sondern beruht auf einem grundlegenden Qualitätssprung: „Bisherige Daten wie Texte oder Bilder können digital verarbeitet werden, doch für den Rechner sind sie nur eine Aneinanderreihung von Zeichen oder eine Anordnung von Punkten. In der zweiten Welle werden die Computer mehr und mehr in der Lage sein, die Daten zu ‚verstehen‘, Inhalte zu beschreiben.“ Allerdings liegen 95 Prozent der Massendaten im Netz als unstrukturierte Dokumente vor. Von entscheidender Bedeutung ist es, diese chaotische Informationsflut in eine von Maschinen verstehbare Form zu bringen. Der promovierte Informatiker erläutert: „Das ist die entscheidende Innovation. Deshalb werden Technologien der Künstlichen Intelligenz wie das maschinelle Lernen oder die Informationsgewinnung mittels Algorithmen der entscheidende Treiber der zweiten Welle.“

Künstliche Intelligenz klingt für manche Menschen noch nach beunruhigender Science Fiction. Doch Prof. Wahlster stellt klar, dass diese schon in etlichen Bereichen Einzug in unseren Alltag gefunden hat: „Ob wir dem Smartphone mit der Stimme Anweisungen geben, mit Translate eine koreanische oder arabische Website übersetzen oder im Auto Fahrassistenzsysteme einschalten – dahinter steckt immer Künstliche Intelligenz.“ Der Vormarsch der selbstlernenden Systeme wird nicht nur das produzierende Gewerbe grundlegend verändern, sondern auch ganz neue Dienstleistungsangebote, Smart Services, möglich machen.

Auf die Frage, wie die zweite Welle der Digitalisierung die Arbeitswelt verändern wird, stellt Prof. Wahlster zunächst fest: „Bisher hat jede grundlegende Innovation Arbeitswelten verändert. Wenn wir an verschwundene Berufsbilder denken, dann müssen wir gar nicht bis zu den Postkutschern zurückdenken. Die erste Welle der Digitalisierung hat beispielsweise den Beruf des Fotolaboranten überflüssig gemacht.“ Sind jetzt die Arbeitsplätze in der Industrie dran? „Der Mensch ist nicht zu ersetzen“, stellt Prof. Wahlster klar. „Unsere Wahrnehmung, unsere Sensomotorik ist allen technischen Systemen überlegen. In der Industrie der Zukunft werden Menschen in Teams mit Robotern zusammenarbeiten.“ Ersetzbar ist der Mensch in nicht allzu ferner Zukunft allerdings dort, wo es um die Auswertung von mehr oder weniger strukturierten Daten wie in Geschäftsberichten oder Statistiken geht. Prof. Wahlster bringt es auf den Punkt: „Der Fabrikarbeiter ist weniger in seinem Job gefährdet als das mittlere Management.“ Doch die zweite Digitalisierungswelle wird in Deutschland gleichzeitig neue Arbeitsplätze schaffen. Prof. Wahlster erklärt: „Die Künstliche Intelligenz ist keineswegs ein ‚Jobkiller‘ – das genaue Gegenteil ist der Fall. Weltweit haben die Länder mit der höchsten Roboterdichte zugleich die niedrigsten Arbeitslosenzahlen.“